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Pilger Buchstaben V W X

V - wie verlaufen (alles freiwillig)

Verlaufen, das ist unser zweiter Vorname. Ach meine Güte, ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir einer falschen Fährte gefolgt sind. Manchmal ist das ärgerlich, besonders, wenn man schon mit der Kraft am Ende ist. Manchmal allerdings empfindet man es als einen echten Glücksfall. Davon erzähle ich Euch jetzt:

Als hätte nie ein Regentröpfchen diesen Himmel getrübt, so präsentierte sich das Land am nächsten Tag. Und Gerd und ich, wir hatten uns verlaufen! Irgendwo nicht richtig aufgepasst, wahrscheinlich von der bezaubernden Landschaft so in Anspruch genommen, mussten wir Hinweise übersehen haben. Wir hatten uns darüber gewundert, dass wir seit längerer Zeit niemanden mehr getroffen hatten und die Wegmarkierungen fehlten. Unser Pfad führte uns durch die Wälder steil hinauf in die Berge. Wie wir heute wissen, es war die „Sierra Plana de la Borbolla“. Dieser etwa 200 Meter hohe Gebirgskamm verläuft parallel zur Küste. Von dort oben hatten wir einen Traumausblick. Zur rechten Hand der schmale Küstenstreifen an der Biscaya, im leichten Dunst konnten wir die Dörfer und Straßen erkennen und hatten einen weiten Blick über das Meer und zur linken Hand die Picos de Europa, so nahe würden wir ihnen nicht wieder kommen. Das Kalksteinmassiv präsentierte sich in fast voller Schönheit, nur die Bergspitzen befanden sich in den Wolken. So viel landschaftliche Schönheit macht süchtig und wir sahen es überhaupt nicht ein, weshalb wir diesen wunderbaren Gebirgskamm verlassen sollten, solange wir dort oben einen Pfad vorfanden. Leider, dieser Saumpfad endete bei einer Straße, die über diesen Kamm ging und in großen Serpentinen hinunter an den Küstenstreifen führte. Nein, wir waren trotzdem immer noch nicht bereit, unsere Aussichtsloge zu verlassen. Ein paar Traktorenspuren zeigten uns an, dass wir auf diesem Bergrücken weiterlaufen könnten und das taten wir dann. Über ein paar Kuh-Weiden ging es noch so weiter und dann war Schluss! Ein elektrischer Weidezaun schützte das Vieh vor dem Absturz, denn das Gelände fiel hier steil ab. Ob wir nun wollten oder nicht, wir mussten nun unsere Aussichtsplattform verlassen. Wie man elektrische Weidezäune überwindet, das wussten wir, seit wir durch die Eifel stapften. Aber die steile Gefällstrecke behinderte auch uns. Wir pflügten durch das hüfthohe, pieksige Gras am Waldesrand auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für den Abstieg und tatsächlich, wir fanden im Wald so etwas wie einen verwilderten und überwucherten Pfad. Wir nannten den unseren Jägerpfad, denn es ging durch das Unterholz in unserer grünen Hölle, vom Regenwasser waren die Steine glitschig, da hieß es verflixt aufpassen. Wir hörten es von überall her rascheln, wir waren nicht allein in diesen Bergen. Dass wir von vielen Augen aus dem Wald heraus misstrauisch beobachtet wurden, das waren wir gewöhnt. Nur, dass unsere langen Gegenstände, die wir mit uns führten, die Trekkingstöcke waren und keine Gewehre, das war der Unterschied, zwischen uns und den Jägern. Diese Trekkingstöcke mussten wir einige Male wie Macheten einsetzen, um uns das undurchdringliche Gestrüpp vom Leibe zu halten. Endlos, möglicherweise nur gefühlt endlos, ging es so den Hang hinunter, bis wir zu einer gewaltigen Abbruchkante kamen. Diese Abbruchkante war durch eine aktuelle Baustelle im Straßenbau entstanden und wir sahen zunächst keine Möglichkeit, wie wir nach unten zu dieser Baustelle gelangen sollten. Nach der niedrigsten Stelle suchten wir, und dann half nur noch hüpfen! Wie man halt so hüpft, leichtfüßig wie Elfen, oder die Tiere mit „E?“, mit einem Zwölf-Kilogramm-Rucksack auf dem Rücken. Wir kannten es noch von den französischen Straßenbaustellen, man muss mit dem Baggerführer Sichtkontakt aufnehmen, damit der mitkriegt, dass da zwei Leute auf seiner Baustelle rumlaufen. Der Baggerführer war über unseren Besuch nur sehr mäßig erfreut, ebenso die Fahrer der Lastkraftwagen. Sie ließen uns passieren, in dem lockeren Erdreich versackten wir mit den Wanderstiefeln bis über den Schaft, aber, die Straße runter ins Tal war in greifbarer Nähe. Nun trennte uns nur noch ein Straßengraben! Rucksäcke runternehmen, über den Graben werfen, Anlauf nehmen und hinterher! So, das wäre geschafft! Aber, wie sahen wir bloß aus, zerkratzt, zerschunden, von Insekten zerstochen. Wir entfernten die Kletten aus unserer Kleidung, den Sand aus unseren Schuhen und setzten den Weg fort!

 

W – wie Wanderplanung (Alles freiwillig)

 

Planungen sind schon immer dafür gut gewesen, umgestoßen zu werden. Dort, wo Planungen stattfinden, sind in der Regel Änderungen nicht fern. Genauso war es bei uns!!! Weihnachten 2011 überreichte uns unser kleiner Enkel mit seinem kleinen Patschhändchen ein zerknittertes Schwarz-Weiß-Bild. Es handelte sich um die Ultraschallaufnahme seines Geschwisterchens. „Ah ja, wann ist denn Termin? Ach, Anfang Juli! So, so, da sind wir doch unterwegs!!!“ Jetzt musste eine Lösung her. Wir hatten eigentlich vor, unsere Wanderung ohne Unterbrechung bis nach Santiago durchzuführen. Unterbrechungen oder gar den Abbruch der ganzen Tour wollten wir nur bei sehr schwerer Krankheit oder Tod innerhalb der Familie akzeptieren. Nein, diese Geburt eines neuen Familienmitgliedes wollten wir uns nicht entgehen lassen, denn das ist ein sehr guter Grund für eine Unterbrechung. Ende Juni/Anfang Juli, wo könnten wir zu diesem Zeitpunkt wohl sein? Wenn alles planmäßig läuft, könnten wir in der Mitte Frankreichs sein und von dort ist die Rückreise per Bahn möglich, oder vielleicht bekommen wir sogar einen günstigen Flug von Paris aus zurück nach Hamburg. Acht bis zehn Tage Heimaturlaub zur Begrüßung des neuen Enkelkindes, das war unsere neue Planung, dieser Zeitrahmen sollte dafür ausreichend sein. Die gesamte Tour auf ein späteres Jahr zu verschieben, das wäre keine gute Lösung des Problems, irgendwelche Hindernisse würde es möglicherweise immer mal wieder geben. Und dann??? Lassen wir es ganz sein, oder wie? So kommen wir doch nie an unser Ziel! Wir planten eine Unterbrechung ein! Und gut ist! 

 

X – wie XACOBEO (alles freiwillig)

Immer, wenn der Gedenktag des Heiligen Jakobus am 25. Juli auf einen Sonntag fällt, dann wird das „Heilige Compostelanische Jahr“, das „Año Santo Compostelano“ gefeiert. Dieser Brauch, ein heiliges compostelanisches Jahr zu feiern, geht vermutlich auf das Jahr 1428 zurück, als das allererste heilige Jahr eingeführt wurde. Das letzte heilige Jahr wurde 2010 begangen und das nächste heilige Jahr kann den Bestimmungen gemäß erst wieder im Jahr 2021 gefeiert werden. Es liegen somit elf lange Jahre zwischen diesen beiden Terminen. Elf Jahre ohne Höhepunkte, das reicht der galicischen Verwaltung, der Xunta de Galicia für die touristische Vermarktung eigentlich nicht aus. Der Marketinggedanke hat also auch offiziell die Pilgerstätten fest im Griff. Und mit den Instrumentarien des Marketings werden der Camino und Santiago de Compostela wirtschaftlich gefördert. Entlang der Jakobswege hatte es schon immer in den unterentwickelten Regionen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben, solange die Pilger kamen. Aber wehe, die Pilger blieben aus, da ist der Dornröschenschlaf dann schon vorprogrammiert. Solange das Marketing also nicht die Oberhand über diese fördernden Maßnahmen bekommt, ist das sicher nicht zu beanstanden. Es bestehen aber große Risiken, dass gerade dies geschehen könnte. Insofern stehen ökonomische und religiöse Interessen in Konkurrenz.

In den heiligen, den Gnadenjahren explodieren somit die Besucherzahlen in der Kathedrale von Santiago regelrecht. Das Pilgerbüro des Erzbistums Santiago führt eine Statistik der in Santiago angekommenen Pilger. Unterschieden werden diverse Kriterien wie beispielsweise die Nationalität der Pilger, Geschlecht und Altersverteilung und nach den Gründen für die Pilgerwanderung. Die Pilger werden nach den Motiven befragt, die religiös motiviert sein können, religiös und kulturell oder auch nicht religiös. Erstaunlicherweise liegt der Prozentsatz der nicht religiös motivierten Pilger bei über sechs Prozent. Für das heilige compostelanische Jahr 2010 wurden insgesamt 272.412 angekommene Pilger gezählt. Im Jahr unserer Wanderung, zwei Jahre später im Jahr 2012 waren es immerhin 192.488 Pilger. Daraus wird deutlich, wie sehr sich die Pilgerbesuche in den heiligen Jahren steigern. Die Pilger betreten in den heiligen Jahren die Kathedrale von Santiago durch eine eigens dafür geöffnete Pforte, die Puerta de Perdón oder Puerta Santa. Eine so große Stadt wie Santiago de Compostela wird mit diesen Menschenmassen an Pilgern und Touristen, die dieses religiöse Event erleben möchten, wahrscheinlich fertig und unter touristischen Aspekten ist man in der Stadtverwaltung wohl gar nicht glücklich darüber, dass das nächste heilige Jahr noch in so weiter Ferne liegt. Wirtschaftlich und für die Infrastruktur des Landes hat die wieder anspringende Pilgerbewegung den nördlichen Regionen Spaniens große Vorteile gebracht. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass grundsätzlich die Arbeitslosigkeit, besonders die Jugendarbeitslosigkeit, hoch ist und Perspektivlosigkeit im jugendlichen Alter birgt besonders viel Sprengstoff.