Das Etappenziel war erreicht, Gerd stoppte das Motorrollergespann vor dem Campingplatz in Sodankylä und ging die paar Meter zur Empfangshütte. Ich blieb in meinem engen Beiwagen sitzen, denn es würde ja gleich weiter gehen. Plopp, neben mir plumpste ein dicker Hintern auf die Sitzbank des Motorrollers. Der dazugehörige Kerl, pickepackehackevoll, fummelte am Lenker rum. »Wo ist der verdammte Zündschlüssel?«, verstehen konnte ich sein finnisches Gebrabbel nicht, schloss das aber aus seinem Tun. Bisher empfand ich es immer als ganz besonders spießig, denn Gerd zieht beim Absteigen vom Motorroller fast schon reflexartig den Schlüssel ab. In meinem Fall heute, »Gott sei Dank« wieder. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie ich im Seitenwagen sitzend mit dem total benebelten Typen durch die Gegend gebraust wäre. Schnell mal aussteigen, ist bei der engen Kiste nicht drin. Na vielleicht doch, denn Angst verleiht ja bekanntlich Flügel! Die Maschine ließ sich nicht starten, der Bursche verlor rasch das Interesse und trollte sich. Apropos Trolle, sind das nicht die unseligen Waldunholde Skandinaviens, so kam mir der Kerl vor. Gerd, der nur in kurzer Entfernung am Empfangsschalter stand, bekam von meiner prekären Situation überhaupt nichts mit.
»Stellt euer Zelt auf den Rasen zu den anderen«, wies uns der Platzwart an. Was soll ich sagen, die großflächige Wiese war voll, übervoll besetzt. Dicht an dicht standen die Teile, wir fanden mal eben noch ein kleines Plätzchen am Rand, neben einem Entwässerungsgraben. Gedränge auf der Zeltwiese hatten wir bisher noch nie erlebt, meistens waren wir sogar die einzigen Camper, die mit dem Zelt unterwegs waren.
»Was ist hier denn los?«, fragten wir die Nachbarn. Ein Festival! Das kann ja heiter werden. Gerd und ich waren total unbedarft, hatten absolut keine Ahnung, was hier ab ging. Zunächst glaubten wir noch an eine Musikveranstaltung, denn vom Ortszentrum her schallte laute Musik über den Fluss. Im Hinterkopf hatten wir solche Veranstaltungen von der Art, wie das Hurricane Festival in Scheeßel oder das Wacken Open Air. Mal von der drangvollen Enge auf der Wiese abgesehen war es ein schöner Platz. Auf dem Dach der Grillhütte entdeckte ich den legendären Polarfuchs wieder. Diesmal drehte der metallene Feuerfuchs in der Funktion als Windrichtungsanzeiger seine Runden.
In den Campingplatzwaschküchen hat man manchmal interessante Begegnungen. So wie hier. Ich erteilte einem jungen Typen grade Wäschepflegetipps. Ist eine alte Hausfrauenangewohnheit. Die Unterhaltung war in Englisch, bis Sam zu mir sagte, wir könnten ja deutsch miteinander sprechen. Er erzählte mir, er sei auf drei Rädern hier in Lappland unterwegs. Ach was? Wir auch! »Wo stehst du denn, ich komme nachher mal mit meinem Mann vorbei.« Das Vehikel machte mich sehr neugierig. Er kurvte mit einer dreirädrigen Ape Classic 400, italienischer Provenienz durch die Weltgeschichte. Die Firma Piaggio brachte das Kultfahrzeug als Kleintransporter auf den Markt. Mit Spanngurten hatte Sam eine längliche Holzkiste auf der Ladefläche befestigt. Der Kasten diente ihm zu Wohnzwecken. Wir konnten uns gar nicht wieder einkriegen. »Das lässt der TÜV zu?«, so Gerds erstaunte Frage. »War kein Problem«, antwortete Sam, er habe alles von der Polizei prüfen lassen. Der Aufbau zähle als Ladung und könne demzufolge so befestigt werden. Man lernt nie aus! Auf eine pfiffige Art und Weise stellte ›Sam Someone from Somewhere‹ sich und seinen fahrbaren Untersatz den anderen Verkehrsteilnehmern vor. Max. Speed: 45 km/h; 400 ccm Diesel; 6 kW – 8,5 PS; 3,3 Liter/100 km, das alles teilte er auf einem Schild im Fenster des Kastens mit. Dann erteilte er die Erlaubnis zum Fotografieren und zum Veröffentlichen. Woher er kam und wohin er möchte, machte er mit einer kleinen Handskizze deutlich, von Süddeutschland nach Nordfinnland. Seine Philosophie für selbst gemachte Abenteuerreisen: ›einfach machen und schauen, was passiert‹. Wer wollte ihm da widersprechen! Im Internet brauche man nicht nach ihm zu suchen, er besäße keine Homepage, die Straße sei sein Zuhause. In Gegensatz zu uns wusste Sam sehr genau, welches Spektakel uns in Sodankylä erwartete, denn er war extra deswegen von Regensburg hierher gereist, zum ›Midnight Sun Film Festival‹. Internationale Filmveranstaltungen kannten wir bis dato nur aus dem Fernsehen, wir sind sehr gespannt.
T-Shirt-Wetter in Sodankylä! Ja tatsächlich, man konnte ohne Jacke und Pullover in der Sonne sitzen. So warm war es bisher noch nirgendwo auf dieser Strecke, wie jetzt hier in Lappland. Wir saßen zusammen mit einigen jungen Finnen im lichten Schatten einer Birke und plauderten. Ein Becher mit glasklarer Flüssigkeit wurde herumgereicht. Was ist drin? Na Wodka, Pfefferminzlikör und ein paar getrocknete Kräuter, Birkenblätter oder so. Aha! Gerd nahm einen kleinen Schluck, ich auch. Das Mädel und die Jungs hatten einen intus, das war unverkennbar. Ein Windstoß wehte ein Zelt fort. Gerd und ein anderer Gast holten es zurück. Der Besitzer hatte sich nicht von seiner Isomatte bewegt und meinte nur ungerührt, es sei seins und er hätte es später schon noch eingefangen. Zum Abschied gab’s noch ein weiteres Schlückchen, denn wir wollten zum Festivalgelände aufbrechen. Die finnischen Freunde werden wohl auch an diesem Tag wieder nicht die gekauften Eintrittskarten einlösen, dafür müssten sie sich auf den Weg ins Dorf machen. Wenn sie’s denn können, hackevoll, so pickepackevoll wie die waren.
Im Sanitärgebäude herrschte große Betriebsamkeit, die Mädels hübschten sich fürs Festival auf. Wir verließen den Campingplatz und folgten einfach dem Strom der Menschen über die Brücke des Flusses Kitinen zum Ortszentrum. Wir dachten daran, uns Eintrittskarten zu kaufen. In dieser Nacht spielten nur finnische Produktionen, mit englischen Untertiteln. Das ist nicht ideal für einen Film, weil man sich zu sehr auf den Text statt aufs Bild konzentriert.
Wir entschieden uns fürs ›Leute kucken‹. Die Finnen haben bekanntlich viel Sympathie für Skurriles, es versprach, ein interessanter Abend zu werden. Mit einer Bierdose in der Hand nahmen wir die Beobachtungen auf. Nach einiger Zeit des Kuckens fühlten Gerd und ich uns regelrecht als graue Mäuse. Langweiler in Motorradklamotten! Erwartungsgemäß waren die Schönen der Filmbranche zugegen, die wurden locker getoppt von ihrem Publikum, die fantasievolle Haarstylings und Garderoben vorführten. Ein kahlköpfiger Kerl mit Riesensonnenbrille hatte einen ganzen Harem schönster Frauen um sich geschart, die ihn umgarnten. War er einer der Entscheider für Filmproduktionen? Wer weiß, wer weiß?
In dieser Nacht fühlte ich mich ausgesprochen düsig. Ich wollte zur Toilette gehen. Sobald ich meinen Kopf auch nur minimal anhob, wurde mir schwindelig, nützt ja nichts, ich musste aus dem Zelt raus. Wie volltrunken taumelte ich zum Sanitärgebäude. Hoffentlich hat mich keiner gesehen, es war ja taghell. Was wohl sonst noch an zerbröselten Substanzen im glasklaren Gemisch vom Nachmittag war? Gerd meinte, du spinnst, du hast bloß Minischlückchen genommen. Stimmt, der Alkohol kann es nicht gewesen sein, meine Schwindeligkeit hatte ja vielleicht eine völlig andere Ursache. Denk an die Kräuter!